Danke, dass du lebst, Alexandra

Eine liebe ehemalige Kollegin rief mich aus Südosteuropa an. Ich war ahnungslos. „Alexandra ist ins Wasser gegangen“, sagte sie unter Tränen mit brechender Stimme. Ich wusste um die Vorwürfe gegen die stellvertretende Chefredakteurin der „Süddeutschen Zeitung“ und die Umstände, unter denen sie publik wurden. Und um die Häme und den Hass, die sich im Netz lawinenartig ausbreiteten. Die Nachricht traf mich wie ein Keulenschlag. Niemals hätte ich bei Alexandra mit so etwas gerechnet. Denn sie ist eine Kämpfernatur.

Alexandra Föderl-Schmid bei einer Begegnung in Israel im Jahr 2018.

Ich kenne Alexandra Föderl-Schmid seit den ersten Tagen des „Standard“, als sie noch Oberösterreich-Korrespondentin war. Als Außenpolitik-Redakteur erlebte ich ihren Aufstieg über diverse Stationen in der Zeitung bis in die Chefredaktion mit. Von ihren Korrespondenten-Posten in Berlin und Brüssel aus war ich ihre bevorzugte Anlaufstelle in der Wiener Redaktion. „Du machst zu meinen Geschichten immer bessere Titel als meine eigenen“, sagte sie manchmal. Das freute mich.

Wir wurden, ja, das kann ich sagen, Freunde. Das hatte allerdings keinen Einfluss auf unser dienstliches Verhältnis, als sie Chefredakteurin wurde. Sie war eine überzeugte und überzeugende Teamarbeiterin, bar jeder Eitelkeit. Aber wenn sie einen Vorschlag für eine Geschichte machte, blieb sie dran. Damit zu rechnen, dass sie eine Sache vergaß, wäre ein schwerer Fehler gewesen. „Ich weiß, ich bin ein Mühlviertler Sturschädel“, meinte sie in solchen Fällen fast entschuldigend. Ihr Herz lag zudem bei der Print-Ausgabe. Obwohl sie sich dem Zug der Zeit hin zu den Online-Medien nicht verschloss – nicht verschließen konnte -, war sie überzeugt, dass auch die gedruckte Zeitung eine Zukunft habe. Auf jeden Fall dürfe sie nicht kampflos das Feld räumen.

Nach ihrem Wechsel zur „Süddeutschen“ trafen wir uns einige Male privat oder bei offiziellen Anlässen, zum Beispiel bei der Präsentation ihres Buches „Unfassbare Wunder“ im Jüdischen Museum in Wien. Bei einer privaten Reise sahen wir uns in Israel, wo sie als Korrespondentin der „Süddeutschen“ arbeitete. Zum Hebräisch-Lernen ging sie mehrmals in der Woche zu Fuß von ihrer Wohnung in Jaffa am Strand entlang nach Tel Aviv. Alles, was sie machte, machte sie hundertprozentig. Mindestens. Im Schnitt lieferte sie täglich mindestens eine Geschichte nach München, die Reaktion kam mit dem Veröffentlichen kaum nach. Sie genoss es, nach ihren Jahren als Chefredakteurin beim „Standard“ mit den vielen Führungs- und Verwaltungsaufgaben wieder journalistisch arbeiten zu können. Sie tat es mit vollem Einsatz.

Ihr journalistisches Ethos ist über jeden Zweifel erhaben. Das schließt – bei der Textmenge, die sie produzierte -, nicht aus, dass sie es in einzelnen Fällen mit der Quellenangabe nicht immer ganz genau nahm. Offensichtlich – nach dem zu schließen, was man bisher weiß – waren das aber keine wirklich gravierenden Fehltritte. Ich möchte die Kollegin, den Kollegen kennen, die/der bei jedem eher unbedeutenden Nebensatz, bei jedem eher nebensächlichen Detail stets penibel die genaue Quelle angegeben hat, wenn es nicht das Ergebnis eigener Recherche war.

Zwei Stunden nach dem ersten Anruf der lieben Kollegin kam der zweite. „Sie lebt!!!!“, sagte sie fast jubelnd. Auch meine Erleichterung war grenzenlos. „Ein in seiner Würde und Integrität schwer getroffener Mensch rettete sich mit einem Rest an Daseinskraft zurück ins Leben“, schreibt Hubert Patterer in der „Kleinen Zeitung“ sehr treffend. Es hätte auch anders ausgehen können. Aber dieses „Ende“ entspricht ihrem Naturell. Denn Alexandra ist, wie gesagt, eine Kämpferin. Vor ihrem ersten Israel-Einsatz hatte sie ein mehrwöchiges Überlebenstraining bei der deutschen Bundeswehr absolviert. Das half ihr jetzt möglicherweise.

Dass daraufhin in den „sozialen“ Medien, unter anderem unter dem Hashtag „Flowerrain“, eine Welle der Anteilnahme und Solidarisierung anrollte, ist ein schwacher Trost. Denn das menschengemachte Unheil war schon geschehen, trotz des glimpflichen Ausgangs. Die Kraft des Bösen, dem das Netz unter dem Schutz der Anonymität freie Bahn verschafft, übersteigt bei weitem das Gute, das sich dort auch verbreiten kann. Es sind die niedrigsten Instinkte und Triebe, die sich hier ungehemmt ausleben können. Wenn es selbst der „Standard“ in einer wohlwollenden, zwei Seiten langen Geschichte über den Fall nicht lassen kann, Hasspostings zu zitieren, sieht man, wie vergiftet das Klima schon ist.

Mit ihrer Verzweiflungstat hat Alexandra ein Zeichen dagegen gesetzt.

Danke, dass du lebst, liebe Alexandra.

                           Fotos: Kirchengast