Österreichisches Bosnien, europäischer Islam

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Einst von den Österreichern im neo-maurischen Stil errichtet, im Krieg zerstört, mit österreichischer Hilfe wiederaufgebaut und 2014 wiedereröffnet: die Vijecnica, das alte Rathaus von Sarajevo.

Der Sohn unserer Quartiergeber in Mostar, der unser Gepäck in den zweiten Stock schleppt, spricht exzellent Deutsch. Warum, enthüllt er uns sofort, nachdem wir uns als Österreicher zu erkennen gegeben haben: Er studiert Informationstechnologie – in Wien. Nach erfolgreichem Abschluss des Master-Studiums ist er gerade erst nach Hause gekommen, in fünfzehnstüdiger Busfahrt von der österreichischen in die herzegowinische Metropole. Ganze 60 Euro zahlen Studenten für das Tour- Retour-Ticket, „normale“ Reisende etwas mehr. Aber es ist immer noch ein Schnäppchen, mit dem sich der Balkan auf diese Art bereisen lässt, und erklärt, unter anderem, das boomende Busgeschäft.

Zu den meistfrequentierten Verbindungen zählt Wien-Sarajevo. Das hat viel mit den historischen Verbindungen zu tun, von denen beispielsweise Studierende aus Bosnien-Herzegowina auch heute noch durch gewisse Erleichterungen profitieren. Wir sind zwar auch bei unserer zweiten Sarajevo- Reise innerhalb von zehn Monaten, diesmal gemeinsam mit Freunden, im Auto unterwegs. Aber wie die Begegnung in Mostar zeigt, finden sich immer wieder überraschende Anknüpfungspunkte. Und meist ist schnell eine Gesprächsbasis hergestellt, auf der man einander versteht, selbst bei Sprachproblemen.

Bei aller gebührenden Skepsis gegenüber Verallgemeinerungen: Nach unseren Erfahrungen und Eindrücken, die wir auch diesmal wieder gesammelt haben, ist „Österreich“ bei Bosniern und Herzegowinern überwiegend positiv besetzt. Was angesichts der kurzen offiziellen Präsenz der Habsburger-Monarchie in dem Land und ihrer durchaus zwiespältigen Rolle doch einigermaßen verblüfft.

P1040901Wien-Mostar-Wien oder umgekehrt: für Studenten um 60 Euro. Die berühmte Alte Brücke (Stari Most) über die Neretva aus dem 16. Jahrhundert wurde im Bosnienkrieg 1993 zerstört, mit internationaler Hilfe rekonstruiert und 2004 wiedereröffnet.

1878 erhielt Österreich-Ungarn im Zuge der Neuordnung des Balkans auf dem Berliner Kongress unter Federführung Bismarcks das „Recht“, Bosnien-Herzegowina zu besetzen. 1908 erfolgte die formale Annexion. Zehn Jahre später, mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, war auch die österreichische Präsenz Geschichte, nach nur 40 Jahren. Und dennoch wirkt sie bis heute nach. Die Ignoranz breiter Kreise der Eliten der Doppelmonarchie, vom Herrscherhaus abwärts, gegenüber den vielschichtigen kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen auf dem Balkan wurde positiv konterkariert von einer meist gewissenhaften und effizienten Verwaltung, einem Modernisierungsprogramm für die Infrastruktur sowie religiöser Toleranz.

Militante Serben waren sich der Gefahr, die das für ihre großserbischen Träume barg, sehr bewusst. Und es liegt sowohl eine besondere Ironie der Geschichte als auch eine gewisse historische Logik darin, dass ausgerechnet ein erklärter Befürworter eines Ausgleichs mit den Slawen und expliziter Kriegsgegner in Person des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand dem jungen serbischen Attentäter Gavrilo Princip zum Opfer fiel. Dass Franz Ferdinand und seine Frau Sophie trotz Warnungen Sarajevo ausgerechnet am 28. Juni, dem höchsten serbischen Gedenk- und Feiertag Vidovdan (St.-Veits-Tag, nach julianischem Kalender, 15. Juni nach gregorianischem Kalender), besuchten, zeugt wiederum von der verbreiteten ignoranten Arroganz österreichischer Führungskreise.

Franz und Sophie

Wir besuchen auch diesmal wieder Franz und Sophie in Sarajevo. Nein, keine offizielle Gedenkstätte, denn die gibt es längst nicht mehr. Aber eine der besonderen Art. Es ist eine Teestube in der Nähe der Altstadt. Adnan Smajic, muslimischer Bosnier und ausgebildeter Arzt, hat den Namen bewusst gewählt – als Bekenntnis zu einem europäischen Sarajevo und Botschaft der Toleranz und Verständigung. Nach traumatischen Erlebnissen während des von nationalistischen Serben angezettelten Kriegs, in dem er einen Bruder verlor, gab er den Arztberuf auf und gründete vor sechs Jahren die Teestube. Wer zu ihm kommt, um Tee zu trinken und danach meist auch zu kaufen, den fragt Adnan nach seiner momentanen Stimmung und Befindlichkeit. Danach stellt er eine spezielle Mischung zusammen. Die wird dann in Muße genossen, begleitet von klassischer
Musik oder gutem Jazz (je nach Adnans eigener Stimmungslage) und guten Gesprächen.

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Die Teestube „Franz & Sophie“ nahe dem Basar von Sarajevo ist – unter anderem – ein Bekenntnis zu einem europäischen Bosnien.

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Zwischen der Atmosphäre bei „Franz und Sophie“ und dem Treiben im nahen Basar scheinen Welten zu liegen. Bei näherem Hinsehen und tieferem Eintauchen aber relativiert sich der Kontrast, zumindest gefühlsmäßig. Hier wie da scheint eine gewisse, fast heitere Gelassenheit das bestimmende Element, ein respektvolles Nebeneinander. Während in den Moscheen Männer und Frauen getrennt die rituellen Ramadan-Gebete absolvieren, geht einige Meter entfernt das geschäftige Treiben weiter, preisen die Händler ihre Waren an und feilschen Touristen um den besten Preis.

Türkei zeigt Flagge

Unübersehbar sind in ganz Bosnien und vor allem in Sarajevo seit dem Ende des Krieges 1992-94 viele neue Moscheen entstanden, teils als Ersatz für im Krieg zerstörte, teils aber auch zusätzliche. Nach anfänglichem Engagement Saudi-Arabiens und anderer arabischer Staaten ist es seit einigen Jahren vor allem die Türkei, die im buchstäblichen Sinne Flagge zeigt. Präsident Recep Tayyip Erdogans neo-osmanische Großmachtpolitik (durchaus vergleichbar mit jener vom Kreml-Chef Wladimir Putin) manifestiert sich in Investitionen nicht nur in den Bau von Moscheen und Kulturzentren, sondern auch in der Beteiligung an Infrastrukturprojekten, etwa im Straßen- und Autobahnbau.

Die Europäische Union gerät da trotz ihres enormen finanziellen Beitrags zumindest optisch ins Hintertreffen. Eine rühmliche Ausnahme im kulturellen Bereich bildet etwa die mit EU-Geldern vorbildlich restaurierte historische Moschee in Maglaj, nördlich von Sarajevo. Auch diesmal haben wir sie besucht, auch diesmal wurden wir freundlich empfangen. Im Vorjahr war es ein älterer Herr im dunklen Anzug und mit Fes, der uns auf Deutsch ansprach und in die Moschee einlud. Später erzählte er uns von seinem mehrjährigen Arbeitsaufenthalt in Deutschland. Diesmal begrüßte uns der offensichtliche neue Moschee-Kustos. Unsere Bewunderung für die prächtige Moschee freute ihn sichtlich, und zum Abschied schenkte er uns und unseren Freunden jeweils einen kommentierten Koran in bosnischer Sprache.

Es ist das Gesicht des vielzitierten „europäischen Islam“, das uns hier begegnet, vor allem aber in der nach außen hin so offenen Atmosphäre Sarajevos. Aber hält dieser Eindruck der Realität wirklich stand? Tatsache ist, dass Sarajevo nach dem Abzug der allermeisten Serben überwiegend muslimisch ist. Doch werden radikale Formen des Islam nach Einschätzung von Kennern der Verhältnisse von einer überwiegenden Mehrheit abgelehnt. Das hat historische wie pragmatische Gründe: Ohne permanente europäische Finanzhilfe stünde das Land bald wieder am Rande einer neuen Katastrophe.

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Auch das Bosnische Nationalmuseum wurde, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, unter den Habsburgern errichtet. Der jungen Generation wird es als Ausdruck bosnischer Identität vermittelt.

Machtanspruch und Respekt

Vielleicht sind es gerade diese prekäre Stabilität, dieser zerbrechliche Frieden, die Sarajevo so reizvoll machen. Ein Sinnbild dafür ist das Szenario, das die Stadt im Ramadan bei Sonnenuntergang liefert. Wir beobachten es gebannt von einem Restaurant auf einem der Berghänge aus, die die Stadt quasi einrahmen. Der Knall einer einzelnen Feuerwerksrakete verkündet das Fastenbrechen. Von unzähligen, plötzlich erleuchteten Minaretten ertönen aus Lautsprechern die Rufe der Muezzine. Auch ein imposantes Gebäude zu unseren Füßen erstrahlt auf einmal in rot- goldenem Glanz: die Vijecnica, das alte Rathaus. 1892-94 wurde es von den Österreichern erbaut, im sogenannten neomaurischen Stil, der von renommierten Künstlern der Monarchie mit entwickelt wurde. Damit wollten die neuen Herrscher auch kulturell ihren Machtanspruch demonstrieren, auch gegenüber dem Osmanischen Reich – und den bosnischen Muslimen zugleich signalisieren, dass man ihre Kultur und Religion respektiere.

Während der serbischen Belagerung brannte die Vijecnica im August 1992 nach Granatenbeschuss aus. Die dort untergebrachte bosnische Nationalbibliothek wurde fast vollständig zerstört. Unschätzbares Kulturgut war unwiderruflich vernichtet. Aber die Vijecnica feierte Wiederauferstehung: Großteils mit österreichischen und EU-Geldern restauriert, wurde das Rathaus im Weltkriegs-Gedenkjahr 2014 feierlich wiedereröffnet. Heute beherbergt es eine Austellung über Zerstörung und Wiederaufbau Sarajevos, und es finden auch wieder Gemeinderatssitzungen statt. Die Botschaft ist klar: Die neue alte Vijecnica soll das legendäre kulturelle und religiöse Neben- und Miteinander Sarajevos symbolisieren. Ob aus der Legende neue, gelebte Wirklichkeit wird? Gerade in der aktuellen europäischen Krise wollen wir es zutiefst wünschen.

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Sarajevo während des muslimischen Abendgebets: die Vijecnica, „eingerahmt“ von unzähligen Moscheen mit ihren erleuchteten Minaretten.

Alle Fotos: Kirchengast