Handke und Andrić – (k)ein Vergleich

Peter Handke und Ivo Andrić – zwei im jugoslawischen Kontext ähnlich umstrittene Literaturnobelpreisträger. Ein Vergleich der beiden Persönlichkeiten im Spannungsfeld zwischen ihrem Werk und ihrem Leben ist aufschlussreich.

„Alles.“ Das war Peter Handkes Antwort auf die letzte Frage des Interviewers: „Was bleibt?“ Das Gespräch erschien 2012 in der Kleinen Zeitung anlässlich des 70. Geburtstages des Schriftstellers. Ich fand Handkes so knappe wie umfassende Antwort sympathisch, weil sie meiner Einstellung entspricht: Das Leben als Einheit, aus der nichts ausgeblendet oder verdrängt werden kann, weil eben alles da war und noch ist, kraft seiner – auf welche Art auch immer – anhaltenden Wirkung.

Dieses Alles ist jetzt, mit dem Literaturnobelpreis für Handke, der Kritik daran und Handkes Reaktion darauf, wieder unmittelbar präsent. Es geht um Handkes Parteinahme für „die Serben“ – und damit auch für die Kriegsverbrecher in ihren Reihen – im jugoslawischen Zerfallskrieg in den 1990er Jahren. Handkes Verteidiger sagen, man müsse zwischen Werk und Autor unterscheiden. Handkes Kritiker sagen, der Autor sei nicht von seinem Werk zu trennen: Er sei es ja, der ausgezeichnet werde, und damit auch seine integrale Persönlichkeit.

Handke hat die Nachricht von seiner Auszeichnung sichtlich und hörbar gerührt aufgenommen. Noch 2014 hatte er die Abschaffung des Nobelpreises verlangt. Der Meinungswandel ist menschlich verständlich. Nicht geändert hat sich Handke in seiner Art, auf Kritik zu reagieren. Da wird er mitunter sehr persönlich, ausfällig und unflätig. Auch das ist menschlich verständlich, auch bei einem knapp 77-Jährigen. Wenn Handke aber unter Berufung auf die Qualität seiner Literatur andere abqualifizieren und beleidigen zu dürfen meint, dann pocht er gerade auf jene Einheit von Autor und Werk, die seine Apologeten verneinen. Die meisten von ihnen, so darf man in seiner Diktion vermuten, sind ihm ohnehin scheißegal. Vielleicht aber auch nicht – siehe Nobelpreis.

Als einer, dessen Sozialisierung und Liebe zur Literatur zum nicht geringen Teil auch von dem jungen literarischen und gesellschaftlichen Provokateur Handke befördert wurde, hatte ich Hemmungen, diese Zeilen zu schreiben. Aber erstens ist die Wahrscheinlichkeit, dass Handke sie liest, ohnehin gleich null; und zweitens würde ich mich durch ein noch so wüstes Verdikt aus seinem Munde fast so geehrt fühlen wie Handke durch den Nobelpreis.

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Literarischer Durchbruch mit dem Buch nach dem Selbstmord der Mutter.

Wie auch immer: Ich erkläre mir Handkes Trotzreaktionen, ob als Parteinahme für Serbien oder als Beschimpfung seiner Kritiker in diesem Kontext, auch mit den Prägungen und Erfahrungen seiner Kindheit: dem Tod zweier Onkel mütterlicherseits im jugoslawischen Partisanenkrieg, dem Selbstmord seiner Mutter, einer gebürtigen Slowenin, der Tatsache, dass sein leiblicher Vater und sein Stiefvater deutsche Wehrmachtssoldaten waren. Aus dieser Familiengeschichte wird auch Handkes Sympathie für den jugoslawischen Vielvölkerstaat und seine Skepsis gegenüber den slowenischen Unabhängigkeitsbestrebungen verständlich. Nach dem Selbstmord seiner Mutter 1971 schrieb Handke das Buch Wunschloses Unglück. Bittere Ironie: Damit schaffte er den literarischen Durchbruch. Er selbst sieht es „gesondert“ von seinem übrigen Werk, das mehr als 11.000 Druckseiten umfasst.

Handke hat sich und seinen Lesern mit seiner Sprache einen eigenen Kosmos geschaffen. Fühlt er sich darin gestört, wodurch auch immer, reagiert er gereizt und aggressiv. Selbstkritische Töne, auch nur ansatzweise, kennt man von ihm nicht. Dabei wären sie ein Zeichen von Größe, das er sich angesichts seines Werks spielend leisten könnte. Man darf gespannt auf seine Worte bei der Überreichung des Nobelpreises in Stockholm sein.

„Was die eigenen Fähigkeiten übersteigt“

Gehe es beim Schreiben zu allen Zeiten und dem Erzählen von allen Zeiten nicht stets um dasselbe, fragte dort, in Stockholm, vor 58 Jahren der Literaturnobelpreisträger von 1961 und gab gleich die Antwort: „Mensch zu sein, geboren worden zu sein, ohne es zu wissen oder zu wollen, in den Ozean der Existenz geworfen zu sein, zum Schwimmen gezwungen zu sein, zu existieren; eine Identität zu haben; dem Druck und den Schlägen von außen sowie den unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Taten zu widerstehen – den eigenen und denen von anderen – was so oft die eigenen Fähigkeiten übersteigt?“ Das war durchaus auch kritische Selbstbefragung, die Ivo Andrić vor der Weltöffentlichkeit anstellte.

Den Nobelpreis erhielt der seither berühmteste jugoslawische Schriftsteller für seine Romantrilogie Die Brücke über die Drina, Das Fräulein und Wesire und Konsuln. Darin beschreibt er Leben und Geschichte in Bosnien-Herzegowina. Die Jury würdigte „die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet“. Kritiker warfen ihm Unkenntnis des Islam und eine Art Dämonisierung der Bosniaken vor, auf die sich später, beim Zerfall Jugoslawiens, tatsächlich vor allem die großserbischen Ideologen und Kämpfer beriefen.

Andrić nahm zu den Vorwürfen nicht Stellung. Schon 1958 hatte er sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Tatsache ist, dass er Zeit seines Lebens glühender Jugoslawist war. Dieser Haltung ordnete er alles andere unter und wurde dadurch auch zum Opportunisten, der etwa zu den Menschenrechtsverletzungen des Tito-Regimes schwieg. Er war der einzige Mensch, der die Auslöser der beiden Weltkriege persönlich kannte: Gavrilo Princip, den Attentäter von Sarajevo 1914, und Adolf Hitler; den einen lernte er als Aktivist gegen die Habsburgerherrschaft in Bosnien kennen, den anderen als Gesandter des Königreichs Jugoslawien in Berlin.

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In einer jüngst erschienenen, packenden Biografie schildert der deutsche Journalist und Südosteuropa-Kenner Michael Martens Leben und Werk von Andrić in einer Epoche der Katastrophen (Im Brand der Welten: Ivo Andrić – ein europäisches Leben, Zsolnay Verlag, Wien). Als Botschafter in Berlin scheiterte Andrić in dem Versuch, den Überfall Hitlerdeutschlands auf Jugoslawien zu verhindern. Seine Romantrilogie, die ihm den Nobelpreis einbrachte, schrieb er während des Zweiten Weltkriegs quasi im stillen Kämmerlein in Belgrad. Das jähe Ende seiner Rolle als wichtigster Diplomat des jugoslawischen Königreiches stürzte ihn ein Nichts. „Dieses Nichts hat er mit seiner Literatur gefüllt“, sagt Biograf Martens.

Dass Andrić ähnlich wie Handke von seiner Kindheit geprägt war, darf man vermuten. Er stammte aus einer kroatisch-katholischen Handwerkerfamilie in Sarajevo. Als er zwei Jahre alt war, starb der Vater an Tuberkulose. Danach wuchs er bei der Schwester des Vaters und deren Ehemann in Višegrad auf, die Mutter konnte ihn nicht ernähren. Weil er mit den Verschwörern von Sarajevo sympathisiert hatte, saß er ein Jahr im Gefängnis in Split, wurde danach nach Travnik verbannt und 1917 amnestiert. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs begann er eine Diplomatenkarriere im neu erstandenen jugoslawischen Staat. An der Universität Graz wurde er mit einer Dissertation über „das geistige Leben in Bosnien unter Einwirkung der türkischen Herrschaft“ promoviert. Schon diese Arbeit trug ihm Kritik von Islam-Experten ein.

„Kleiner und schwächer als der Durchschnittsmensch“

Im Gegensatz zu Handke exponierte sich Andrić nie öffentlich in politischen Fragen. Seine Einstellung war bekannt, zu Kritik schwieg er. Dass er sich seiner inneren Widersprüche bewusst war, lässt sich unschwer aus seinen Werken herauslesen – am augenscheinlichsten aus den Charakteren in Wesire und Konsuln. Man ist versucht, aus ihnen oft stark gegensätzliche Wesenszüge wie Mosaiksteine herauszunehmen und zu einem Porträt ihres Schöpfers zusammenzufügen. Und es ist offenkundig, dass Andrić aus seinen Widersprüchen Inspiration für sein Werk bezogen hat – wie er es in seiner Dankesrede zum Nobelpreis ja auch andeutete.

Andrić sei sehr selbstkritisch gewesen, sagt Biograf Martens, habe diese Selbstkritik aber nur in nichtveröffentlichten Notizen geäußert. Über ein namentlich nicht genanntes literarisches Talent etwa schrieb er: „So ist er, wenn er sich nicht auf dem Boden seiner herausragenden Fähigkeiten befindet, oft kleiner und schwächer als der Durchschnittsmensch.“ Kann es sein, dass hinter den heftigen Reaktionen Handkes auf Kritik eine ähnliche Erkenntnis steckt?